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Thomas Imbach hat es wieder getan: gefilmt, was vor seinem Fenster passiert. Das machte er bereits vor zehn Jahren mit dem preisgekrönten «Day Is Done». In «Nemesis» dokumentiert er nun den Abbruch eines alten Güterbahnhofs in Zürich. Das ist schonungslos und poetisch – und manchmal ein vergnügliches Spektakel.
Madeleine Hirsiger
4 min
«Nemesis» ist ein eigenwilliger Film. Die über zweistündige Beobachtung von Thomas Imbach zeigt, wie vor seinem Haus aus in Zürich ein alter Güterbahnhof abgebrochen wird. Während sieben Jahren hat der Schweizer Filmemacher die Veränderungen auf dem weitläufigen Gelände von seinem Fenster aus mit der Kamera festgehalten: der Abriss des historischen Gebäudes aus dem 19. Jahrhundert und der Aufbau des riesigen Polizei- und Gefängniskomplexes. Aus der Perspektive von oben. In klar einzuordnenden Bildern. Schonungslos und faszinierend.
Es ist ein komplexer, vielschichtiger Film: Jede Aufnahme erzählt eine Geschichte, manchmal nur erhascht, nie bedeutungslos. Es sind Geschichten, die ihre Wurzeln in unserer Existenz, in unserem Menschsein haben.
Schon am Anfang wird man auf den Ton des Filmes eingestimmt: Ein nicht sichtbarer Arbeiter schiebt mit seinem Luftbläser einen halb verrotteten Apfel und einen gebrauchten Gummihandschuh vor sich hin – eine unbedeutende Szene, aber nicht ohne Faszination. Man schaut hin, gebannt, ohne sich zu langweilen. Diese Art des Erzählens zieht sich durch den ganzen Film.
Dann der brutale Abriss des historischen Güterbahnhofs, einst eine stolze Anlage der Stadt Zürich, die nun geschleift werden muss, um dem gigantischen Bauvorhaben Platz zu machen. Es soll ein Gebäude der Ordnung und der Strafe entstehen. Die Baubewilligung hatte sich über Jahre hingezogen, bis endlich grünes Licht gegeben wurde.
Vieles ist im Zeitraffer gedreht – und wenn es mit dem Abriss emotional zu viel wird, lässt Imbach den Film ein Stück rückwärts laufen, und der alte, dem Tod geweihte Backsteinbau setzt sich kurz wieder zusammen, verleiht vermeintliche Hoffnung. Doch der in die Mauern knallende Bagger ist unerbittlich, durch nichts aufzuhalten – ein Sinnbild für die Zerstörung unserer Lebensräume. Es gibt kein Entrinnen.
Und wenn alles weg ist, fein säuberlich abgetragen, wird das Gelände akkurat planiert. Ein logistisch beeindruckendes Unterfangen kann beginnen. Bald setzt der durchdringende Lärm eines Presslufthammers ein, um Löcher in die Erde zu bohren. Das Aufstellen von unendlich langen Holzwänden soll unbefugtes Betreten verhindern. Man sieht ein paar Arbeiter, gemächlich, in einer fast leeren Umgebung. Es könnte auch ein Stück Wüste sein.
Aber dann kommt Leben auf, die Bilder füllen sich mit Menschen – Männern –, zuerst sind es Planer, Ingenieure, Architekten, Vermesser. Später kommen die ersten Bauarbeiter dazu, die orangen, die grün-orangen, die gelben, die blauen, die weiss-roten, die von Marti, Anliker, Eberhard, Arge, HRS.
Es sind die kleinen Geschichten, die dem Film etwas Poetisches, Eindringliches verleihen, etwas zutiefst Menschliches auch. Wir werden Zeugen von Verborgenem: ein sich küssendes Liebespaar auf einem Parkplatz, einzelne Figuren, denen Imbach nachgeht. Er lässt sich Zeit, keine Hetze, ein Fuchs, der sich auf dem Bauplatz umsieht, ein nächtlicher Spaziergang eines Mannes mit seinem Hund, Sightseeing-Touren auf dem Bauareal.
Ein Arbeiter, der fast liebevoll den restlichen Sand eines entladenen Güterwaggons wegwischt, das Verteilen von Osterhasen, einen für jeden, und wie sie sich freuen, die starken, unverwüstlichen Bauarbeiter, die vor Wind, Regen und Schnee nicht zurückschrecken, harte Kerle, die stolz sind auf ihr Können, auf ihre Teilhabe an einem grossen Bauwerk. Und habe ich auf dem Balkon einer Holzbaracke – wohl eines der Baubüros – nicht kurz blühende Tomatenstauden gesichtet?
Man hört Stimmengewirr, ohne etwas zu verstehen, aber man kann sich einen Reim darauf machen. Und dann sind da die eingesprochenen Texte, wenige nur, aber berührend. Über Freunde, die nicht mehr sind, wie der Filmemacher Peter Liechti, verwoben mit beklemmenden Aussagen von Asylbewerbern, die in Ausschaffungshaft sind. Diese traurigen Geschichten knüpfen an das an, was auf dem grossen Feld gebaut wird – ein Gefängnis.
Meisterlich ist «Nemesis» auch in der Montage. Da tanzen Baukräne im Abendrot, und mit Sand beladene Lastwagen fahren die Rampen hinauf und hinunter, im Schnellgang ergibt das ein vergnügliches Spektakel. Gedreht wurde auf 35 mm, meistens drei Bilder pro Sekunde, um den Zeitraffer möglich zu machen – und wohl auch um Geld zu sparen. Es sind faszinierende Aufnahmen. Immer vom Fenster der Wohnung des Regisseurs aus gedreht, wie es Imbach 2011 schon für seinen Film «Day Is Done» getan hat.
Da beim Drehen keine Direkttöne aufgenommen wurden, haben Thomas Imbach und Peter Bräker für das Sound-Design alles gegeben. Eine beeindruckende Tonspur wurde kreiert, komponiert, mit Geräuschen, Effekten und Songs, die Hand in Hand gehen und die Aussage der Bilder verstärken: eine äusserst aufwendige Arbeit, die zum Gelingen dieses Films beiträgt.
«Nemesis» ist ein wichtiges Stück Kino, das den Menschen ins Zentrum der heutigen Zeit stellt. Nemesis, die griechische Rachegöttin, die Göttin des gerechten Zorns, der ausgleichenden Gerechtigkeit: Sie hat uns einiges zu sagen.
«Nemesis» ★★★★✩ Schweiz 2019, 132 Min. Regie: Thomas Imbach. Erzähler: Milan Peschel. Im Kino.
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